Aus den zahlreichen abgeschlossenen Forschungsarbeiten des ROOTHUUS GONTEN sind hier Beispiele herausgegriffen:


Naturjodel 2013 - 2015

Das Forschungsprojekt Naturjodel und das Projekt Solojodel
Das ROOTHUUS GONTEN befasste sich mit einem grossen Forschungsprojekt zum Naturjodel rund um den Säntis. Das Projekt besteht aus einem Modul 1 (dem eigentlichen Forschungsprojekt) und einem Modul 2 (praktisches Projekt Solojodel).

Singen ist die älteste und ursprünglichste Form von musikalischem Ausdruck. Daher führt das Erforschen der Singkultur meist auch am weitesten in die Vergangenheit zurück. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse über das Zauren und Ruggusselen stammen aus dem Jahr 1606. Die Tradition des Naturjodels (textloser Jodel auf klingenden Silben ohne Wortbedeutung) wird rund um den Säntis bis heute intensiv gepflegt und mündlich überliefert. Früher sang man Löckler, Melklieder oder Chüedreckler, heute sind Zäuerli und Rugguusseli verbreitet und werden sowohl gesungen als auch instrumental aufgeführt. Das Interesse am Naturjodel nimmt wieder zu und die zahlreichen Interessierten sollten auf ein fundiertes Notenrepertoire zurückgreifen können.

Projektbeschrieb 2013:
Modul 1: Forschungsprojekt Naturjodel 2013-2015
Projektleitung: ROOTHUUS GONTEN, Geschäftsführerin Barbara Betschart
Zugezogene Fachpersonen:  Nadja Räss, Toggenburg / Erwin Sager, (Bühler) Appenzell Ausserrhoden, verantwortlich für die Datenbank / Willi Valotti, Oberes Toggenburg  

Das ROOTHUUS GONTEN wird eine umfassende Sammlung und Aufarbeitung der Naturjodel in den Regionen Appenzell Innerrhoden, Ausserrhoden und Oberes Toggenburg realisieren. Seit etlichen Jahren arbeitet Erwin Sager (Bühler) für das ROOTHUUS GONTEN bereits an der Archivierung der Melodien. Er hat dabei eine präzise Methode entwickelt, um jede Melodie mittels zahlreicher Parameter zu erfassen: Titel, Komponist, Melodie- oder Rhythmuscode, Tonarten, Aufbau des Naturjodels und Quellenangaben sind nur die Hauptangaben der rund 2500 bis jetzt erfassten Melodien. Im Archiv des ROOTHUUS GONTEN liegen grosse Noten-Sammlungen aus dem 20. Jh. von Joseph Peterer (Gehrseff), Carl Emil Fürstenauer oder Johann Manser, die Naturjodel enthalten. Andere Melodien liegen auch in Aufnahmen vor, und vieles muss noch im ganzen Einzugsgebiet gesammelt werden.
Das Ziel ist eine möglichst umfassende Sammlung des Naturjodels rund um den Säntis. Die erfassten Melodien sollen mindestens teilweise ediert und vollständig im ROOTHUUS GONTEN zur Einsicht angeboten werden (die Urheberrechte müssen berücksichtigt werden). Die Datenbank wird auf dieser Website öffentlich zugänglich sein. Gleichzeitig soll ein reichhaltiges Archiv mit den erfassten Audioaufnahmen erstellt werden. Je nach Urheberrechten wird dieses auf dem Internet und/oder auf einer Abhörstation im ROOTHUUS GONTEN zugänglich sein. Mit dem Forschungsprojekt Naturjodel wird einerseits der Status quo erfasst und erhalten, andererseits werden den breiten interessierten Kreisen die Melodien zugänglich gemacht. Wie die Bewegung der „Neuen Schweizer Volksmusik“ zeigt, fördert die Edition der alten Quellen die Experimentierlust einer Vielzahl von Musikanten – Archivierung also auch als Motor für Entwicklung. 

Zeitlicher Ablauf

  • Ab Januar 2013 Feldforschung
  • 2014 Feldforschung, Verarbeitung, Wissenschaftliche Aufarbeitung, Praktische Aufarbeitung
  • 2015 Abschluss der ersten Arbeiten / Online-Schaltung der ersten 22 Jodel

Modul 2: Projekt Solojodel 2014-2015
Künstlerische Projektleitung: Noldi Alder 
Administrative Projektleitung: ROOTHUUS GONTEN, Geschäftsführerin Barbara Betschart
An 10 ausgewählten naturnahen Plätzen werden rund 60 SolojodlerInnen rund 200 Mal 15 Minuten in ihrem ganz persönlichen Stil zauren und johlen. 6 Plätze befinden sich im Kanton Appenzell Ausserrhoden (jeweils 2 pro Bezirk), 2 im Kanton Appenzell Innerrhoden und 2 im Toggenburg. Mitnehmen dürfen die Solojodler ihre Kuh, ihren Töff, ihre Melkmaschine oder das iPhone, aber keine Begleitmusikanten. Diese 200 Einzelereignisse finden über ein ganzes Jahr statt, Start wird im Mai 2014 sein. Da die Tageszeiten der Ereignisse wechseln, tragen die vielen verschiedenen Stimmungen in der Natur zum breiten Spektrum der Veranstaltung bei. Das Zielpublikum ist sehr breit, da viele Leute auch zufällig mit dem Projekt konfrontiert werden. Die Herausforderung für die SängerInnen, das rund 15-minütige Einzelereignis allein zu meistern, ist gross, sind doch die meisten JodlerInnen den Chorgesang gewohnt. Wir wollen den ursprünglichen Solojodel fördern. Jeder der 10 Plätze wird einmal ein Highlight erleben, dann nämlich werden sich drei JodlerInnen treffen und spontan mit Löcklern, Chüedrecklern oder Jützli kommunizieren, wobei sich die Zuhörer in der Mitte des Dreiecks befinden. Als Abschluss des Jahres planen wir eine grosse Schluss-Singlosi, wo alle ca 60 SängerInnen und Publikum zusammen feiern und jeder Jodler/jede Jodlerin spontan aufsteht und eins zum Besten gibt. Dieses grosse Abschlussfest findet im Kanton Appenzell Ausserrhoden statt, der Saal soll eine Festwirtschaft mit mindestens 400 Plätzen sein. Ein Verein der gewählten Gemeinde übernimmt die Restauration und kann die Einnahmen daraus für sich behalten. Die SolojodlerInnen sind an diesem Abend Gäste, ihre Verpflegung wird vollumfänglich durch das Projektbudget gedeckt. Die Singlosi soll auch den Austausch unter den JodlerInnen fördern und stärken, zudem soll über das Naturjodelprojekt des ROOTHUUS GONTEN informiert werden. Das Projekt hat keinerlei wirtschaftliche Interessen. Damit wird gewährleistet, dass der Jodelgesang in den Alltag gehört, wie Zähneputzen oder Lesen, und ursprünglich keine Kunstform ist, die konzertant und gegen Bezahlung dargeboten wird.

Zeitlicher Ablauf

  • Vorbereitungen 2013
  • Start der Planungsarbeiten Januar 2014
  • Start des Projekts Mai 2014
  • Schluss-Singlosi Mai 2015

Die Projekte Solojodel und Naturjodel werden von folgenden Stellen unterstützt:

Kanton Appenzell Innerrhoden: Durch die jährlichen Beiträge an das ROOTHUUS GONTEN
Kanton Appenzell Ausserrhoden: Durch die jährlichen Beiträge an das ROOTHUUS GONTEN
Bezirk Gonten: Durch die jährlichen Beiträge an das ROOTHUUS GONTEN
AGG Appenzellische Gemeinnützige Gesellschaft: Durch die jährlichen Beiträge an das ROOTHUUS GONTEN

Alice Wartemann-Stiftung
Berthold Suhner-Stiftung
Dr. Fred Styger Stiftung
Fonds zur Förderung von Kultur und Brauchtum AR
Fredy&Regula Lienhard-Stiftung Teufen
Kanton St.Gallen, Lotteriefonds
Ostschweizer Stiftung für Volksmusik
Prosper Glucker Fond (ROOTHUUS GONTEN)
Stiftung Landammann Dr. Albert Broger
Steinegg Stiftung


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Forschungsprojekt Ratzliedli, 
2007, mit zwei Editionen 

  • Ratzliedli – Eine alte Gesangskultur im Appenzellerland
    Feldforschungsdokumentation mit über 1200 Textstrophen, 80 Melodien, Anhangteil mit 16 Tanzliedmelodien, reich bebildert. 236 S. A4.
    Nr. 2 der Schriftenreihe des Zentrums für Appenzellische Volksmusik (2007). CHF 68.–
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  • Ratzliedli för en Hosesack – Die Miniausgabe für unterwegs
    Über 600 Textstrophen, 37 Melodien. 156 S. A6.
    Schriftenreihe des Zentrums für Appenzellische Volksmusik (2007). CHF 12.–
    Bestellen >>
    Frontseite2klein


Begriff, Herkunft und Verwandtschaften des Ratzliedli
Von Joe Manser, ehemaliger Geschäftsführer ROOTHUUS GONTEN, November 2007

Ratzliedli
Der Begriff Ratzliedli ist zusammengesetzt aus „ratz“ im Sinne von „zom Tratz“, also necken, reizen, jemanden hänseln, und „Lied“. Es handelt sich dabei um einen kurzen Spass- oder Spottgesang. Früher wurde sogar oft der Begriff „Tratzliedli“ verwendet. J.C. Fäsi liefert 1766 vielleicht den ältesten Hinweis zu den Ratzliedli, wobei er für diese Art Gesänge noch keine präzise Bezeichnung kennt; er schreibt: „Die Liebes-Gesänge nehmen sich durch ihre Kürze und geistreichen Einfälle vor allen andern aus.“
Meistens handelt es sich um zwei- oder vierzeilige Reime, die früher bei Tanzanlässen, im geselligen Beisammensein, an einer Alpstobede, in einer lockeren Runde, beim „zo Stobede goh“, vor der Alphütte, an der Kilbi usw. gesungen wurden – und heute noch werden. Zum typischen Appenzeller Ratzliedli gehört ein Jodel oder Jodelteil in oder nach jeder Strophe. Die Texte sind ländlich, bäuerlich, eben Volkspoesie. Dank der Einfachheit und Pointe halten sie sich durch mündliche Weitergabe oft über Generationen und erleben dabei verschiedenste Varianten. Ein typisches Merkmal vieler Textstrophen ist das „doppelte Motiv“, wobei die Folgerung der beiden gegensätzlichen Reimpaare meist vorausgeahnt werden kann:
Z Appezöll ond z Herisau, do gets e groossi Lende.
Ond wenn de Bueb ke Meedl gsieht, so goht e hee gi pflenne.
oder:
Minere Muetter Chabismesser haut uf beide Siite.
Ond Meiteli, wennt mi nomme wotscht, so säg mes doch bezite.

Ratzliedlitexte werden auch heute noch erdichtet bzw. erfunden, um aktuelle und auch politische Begebenheiten scherzhaft zu beschreiben. Und es galt und gilt der Grundsatz: Wa me nüd säge taar, mo me halt singe! Das Ratzliedli gewährt dem Sänger eine gewisse Anonymität, er muss sich nicht verraten und völlig entblössen: Er kann sich stets mit der Ausrede schützen, es diene ja nur dem Lied. So kann oft Freund oder Feind sich ins Gesicht singen, was man voneinander hält, ohne sich dabei die Zähne einzuschlagen. „Schätzli“ und „liebele“ in variantenreichen Formen und Wunschvorstellungen werden thematisiert, patriarchalische Elemente hochstilisiert, Emotionen gezeigt, versteckte Bedürfnisse angedeutet, es wird giftled, gföppled ond aazönt, doch selten verletzend, und immer in kecker gesanglicher Form. Mit dem Ratzliedli ist es ähnlich wie mit dem Appenzellerkäse: es gibt sie in verschiedenen Stärkeklassen: mild, würzig, rääss. Oft gehört e frechs Muulwech zum Ratzliedli ebenso wie die notwendige Portion Ironie – witzig – die Schlagfertigkeit und spontane Eingabe. Im Ratzliedli ist eben alles möglich. Oder fast. Wichtig dabei ist, dass Gesang und Text von innen kommen, dann ist es echt; und alle echte Volksmusik ist gut. Vielleicht entstand auch ein Vers mal nur um des Reimes Willen; oft kommen reine Wortspielereien vor, und immer wieder findet auch der Nonsens seinen Platz, seine Berechtigung und Akzeptanz.
So wie die Texte einfach sind, so sind es auch die dazugehörigen Melodien: eingängig und gehörfällig. Typisch für das Ratzliedli ist eine möglichst einförmige Melodik, welche aus dem gleichmässigen Aneinanderreihen des Tonika- und Dominantdreiklangs besteht. Das erklärt auch, warum viele Verse zu mehreren Melodien passen und auch gesungen werden (vgl. dazu Nr. 69, Melodienvergleiche).
Die meisten Ratzliedli laufen im ¾-Takt ab. Ein Grund dafür dürfte sein, dass man beim Jodelteil zu dieser Taktart eher „schaukeln und einhängen“ kann; so sind auch Nicht-Vorsänger automatisch in die Runde miteinbezogen, und das „Graadhäbe“ beim Jodelteil kommt in diesem Kreise fast von selbst.
Der grosse Teil aller Verse könnte nach der „Standard“-Melodie „Rulla, dirulla, es ischt halt eso“ problemlos gesungen werden. Dies gilt nicht nur für appenzellische Ratzliedli, sondern auch für die meisten Gstanzln und Schnadahüpfl aus dem gesamten Alpenraum, wo die Melodie in fast identischer Form bekannt ist.
Ratzliedli
Die Verse werden von einem Solosänger oder im Duett vorgetragen, anstelle eines Refrains hängt man dem Ratzliedli nach jeder Textstrophe einen Jodel an, der von der geselligen Runde mit „Graadhäbe“ begleitet wird. Im Gegensatz zum langsamen Jodel, dem Rugguusseli bzw. Zäuerli, handelt es sich hier grundsätzlich um einen schnellen, beschwingten und fröhlichen Jodelteil. Neue Melodie- und Textschöpfungen – bzw. das spontane Ansingen aktueller Inhalte – sind heute eher rar; das Ratzliedli lebt fast ausschliesslich aus der Tradition. Dabei wird klar, dass Inhalte und Themen vielfältig und fast unerschöpflich sind. Viele Ratzliedli-Inhalte haben Allgemeingültigkeit, d.h., sie treten in ähnlicher Form in verschiedenen Regionen des Alpenraumes auf; andere wiederum sind auf das Appenzellerland beschränkt: Sie verlassen die Grenzen ihres Entstehungsgebietes nicht, da sie nur von Lokalinteresse sind. Eine weitere Kategorie von Ratzliedli waren und sind Augenblicks- und Gelegenheitsverse, die, kaum gesungen auch schon wieder vergessen gehen. Die Ratzliedli nehmen eine Mittelstellung in der Entwicklungsstufe des Liedes ein: Jauchzer (Zaur) – Löckler – Naturjodel (Rugguusseli/Zäuerli) – Ratzliedli – Tanzlied – Volkslied.
1. Beispiel als Download: Fasnachtslied aus der Liedersammlung Albertina Broger, Appenzell, ca. 1860 >>
2. Beispiel als Download: I Kau obe isch loschtig >>
ratzliedli1887
„Die Säntisreise“ (1887): ländliches Theaterstück v. Arnold Halder.

Texte im Dialekt
Da die Ratzliedli im Dialekt getextet wurden, gewannen sie vorerst bei der ländlichen Bevölkerung zunehmend an Beliebtheit: Es war die einfache Sprache des „gemeinen Volkes“ und sie trat in klaren Gegensatz zur Schriftsprache der etablierten Gesellschaft, welche die Ratzliedli oft als pöbelhaft, grob oder auch unanständig bezeichnete – was diesem Liedgut eher noch Auftrieb gab. Mit der Drucklegung von Liedern in Mundart nach 1800 wurde aber der Volkston (Melodie, Sprache und Inhalt) bald allgemein akzeptiert und führte in der Folge gar zu einer Begeisterung für alpenländische Dialekte; das einfache aber glückliche Sennenleben und die alpenländische Kultur wurden allenthalben verherrlicht. Einen wichtigen Teil dieses Volksliederschatzes stellen im Appenzellerland die Ratzliedli dar, und die vorliegende Sammlung gibt einen Einblick in die lange Tradition dieser ländlichen Singkultur.
ratzliedli 1964
Ratzliedlisingen auf der Bühne, 1964: Louisa Dörig-Peterer, Lank, St. Gallen / Lucia Schiegg-Dörig, Weissbad / Theres Meier-Rempfler, Weissbadstrasse / Anna Holderegger-Knechtle, Sonnenfeld / Kathri Fässler-Dörig, Berg, Brülisau.

Geografische Einordnung und Verwandtschaften
Ratzliedli sind typisch für das Appenzellerland, speziell für Innerrhoden. Auch im Toggenburg sind ähnliche Lieder bekannt; der musikalische Nachlass von Albert Edelmann (dep. Schweizerisches Volksliedarchiv Basel) wurde diesbezüglich durchgesehen, entsprechende Texte bzw. Melodien sind in dieser Dokumentation ebenfalls enthalten.
Im 19. Jh. begegnet man in Innerrhoden noch der Bezeichnung Schnaderhüpffn, Schnadahüpfeln oder Schnadahüpfl [FN: Heemetklang us Innerrhode, S. 169], was alles auf eine Herkunft aus dem Tirol oder dem östlichen Alpenraum schliessen lässt. So schimmert in manchen „Appenzeller“-Ratzliedli oft auch „halbes Schriftdeutsch“ durch. Eigenständige Bezeichnungen in Innerrhoden waren früher „Stomperli, Satzliedli, Gsatzliedli“, heute verwendet man nur noch den Begriff „Ratzliedli“. In Appenzell Ausserrhoden waren dieselben Gesänge bekannt unter den Namen „Stoberteliedli (Titus Tobler erwähnt im Sprachschatz 1837 das Stobertaliedli: ein kurzes Zotenlied, das an den Stoberta gesungen zu werden pflegt), Stagraafliedli, e chorzes Liedli, e Chorzes, e Lompestöckli, Lompeliedli, e goolis (seltsam/komisch) Liedli [nach A.Tobler, VLA S. 28].
Mit den Ratzliedli, ihrer Entstehung, Herkunft und Bedeutung befassten sich Feldforscher schon früher. Alfred Tobler (Appenzell Ausserrhoden) etwa schreibt: „Der Jodel ist der intensivste Ausdruck inneren Wohlbehangens und will sagen, dass man Frieden und Eintracht wolle. Er erweist sich deshalb auch als ein vorzüglicher Blitzableiter für entstehende Händel. Wie manche beginnende Händel wurden nicht niedergejodelt oder Händelsüchtige, sogenannte „Giftler“ veranlasst, mitzumachen, oder man jodelte sie kurzweg zum Lokale hinaus. Wie manche Unflätigkeiten in gemischter Gesellschaft werden überjodelt. Gerade im Jodel haben die Appenzeller ihre Eigenart am besten zum Ausdruck gebracht … nebst den vielen Volkskunstliedern ist das wirkliche, ächte Volkslied aber der Niederschlag der Volksseele. In ihm kommt alles, was das Volk bewegt … zum unverfälschten, natürlichen Ausdruck. Text und Melodie entsprechen im Volksliede so sehr dem Wesen des Volkes, dass es beides sich aneignet und von Generation auf Generation überträgt. In dieser Art Tradition liegt auch die Erklärung, weswegen im Laufe der Zeit textliche Unterlagen und musikalische Beigaben Veränderungen gelegentlich tiefschneidender Art erfuhren.“
Johann Manser (Appenzell Innerrhoden) schreibt im „Heemetklang us Innerrhode“ (1979) S. 169: „Zu den Ratzliedli gibt es eine Unzahl von Strophen, die grösstenteils nach und nach improvisierend aus dem Volk entstanden sind. Würde man all die Strophen sammeln, gäbe dies allein ein ziemlich dickes Buch. Schon Alfred Tobler (1845–1923) hat sich bemüht, solche Strophen zusammenzutragen, und er hat einzelne Melodien mit fünfzig bis hundert Strophen versehen.
Ratzliedli setzen immer voraus, dass man nicht allzu zimperlich ist. Allzu viel Geist soll bei ihnen auch nicht gesucht werden.“
ratzliedli 2004
Ratzliedlisingen, Rest. Warth, Weissbad-Tribern, 25.9.2004

Begriffe – sie alle meinen irgendwie dasselbe
Ratzliedli, Stagraafliedli, e chorzes Liedli, e Chorzes, chorze Liedle, e Lompestöckli, Lompeliedli, e goolis Liedli, Stobertaliedli, Stomperli, Satzliedli, Gsatzliedli, Gsätzli, Gsätzle, G’setzln, Gsätzli-Jodel, Gstanzln, Lumpen-Gstanzln, lumperte Gstanzln, Schnaderhüpfl, Schnödahopfl, Schnöderhöpfl, Schnaderhagge, Stückl, Possenliedln, Trutzliedln, Trutzgsangl, Spitzliedln, Schleifer, Haarbrecher-Gsangln, Tanzln, Plopperlieder, Plepper(liedl), Schwatzliedln, Flausen, Schmetterliedln, Basseln, Vierzeiler, Vierzeilige, Kurschza Liadlan, Schelmeliedle, Rappedietzle, Schlumperliedl, Schumperliedlein, Rundas, Rund’s, Sprüchle, Versle, …
Und als Übersetzung dazu etwa: Jux-/Spott-/Neck-/Scherz-/Fopplied, Zotenvers, Spottgesang, Lumpenlied, Gassenhauer, …
Erklärungen in Grimms Wörterbuch:
Stubetenliedlein: Liedchen erotischen Inhaltes, das man in gemischter Gesellschaft bei Abendbesuchen, abendlichen Zusammenkünften (Stubeten) von jungen Personen beider Geschlechter singt.

Erste (und letztmalige) Ratzliedli-Feldforschung vor über 100 Jahren
Alfred Tobler war es im Jahre 1903 gewesen, der das „Volkslied im Appenzellerlande“ (VLA) aufgrund von intensiven Feldforschungsarbeiten in Inner- und Ausserrhoden herausgegeben hatte. In beiden Halbkantonen sind unterdessen zwar Publikationen erschienen, u.a. in Ausserrhoden „Aus der Heimat“ – Alte und neue Lieder aus dem Appenzellerland“ (herausgegeben von der Landesschulkommission A.Rh., 1977), im andern Kantonsteil das „Innerrhoder Liederbuch – Alte und neue Lieder aus dem Appenzellerland“ (bearbeitet und herausgegeben im Auftrag der Landesschulkommission des Kantons Appenzell Innerrhoden von Alfred Signer, 1968). In beiden Liederbüchern steht das heimische traditionelle Jodellied im Vordergrund, eigentliche Ratzliedli findet man nur wenige darin. Schon verschiedentlich waren Bestrebungen im Gange, ausschliesslich diese Liedgattung zu erforschen und möglichst alle Ratzliedlitexte und -melodien zusammenzutragen. So steht z.B. schon im Appenzeller Volksfreund Nr. 10 vom 19. Januar 1946 folgende Anregung „… sollten wir daran gehen, auch unsere Jodel- und Razzliedlein zu sammeln. Auch das wäre eine sehr schöne Aufgabe der T.V.“ (Trachtenvereinigung Appenzell [I.Rh.]). Zum Glück gab es da und dort stets fleissige Sammler/innen, denen die Ratzliedli wertvoll und erhaltenswert schienen. Dank ihrem Engagement wurden diese Verse (meist handschriftlich) notiert, oft auch wieder gesungen, blieben lebendig und fanden nun den Weg in diese Publikation hinein.

Editionspraxis
Bei der Bearbeitung der vorliegenden Dokumentation wurde darauf geachtet, die jeweils bekanntesten Strophen eines Ratzliedli an den Anfang zu setzen (bzw. der Melodie zu unterlegen), um dadurch eine lebendige Singpraxis gewährleisten zu können. Die Akkordangaben – stets als Empfehlungen gedacht – sind bewusst einfach gehalten, damit bei der Aufführung weitgehende Freiheiten für eigene Ideen gegeben sind.
Die aus gedruckten Sammlungen übernommenen Ratzliedli sind durchwegs in der originalen Form wiedergegeben. In den verschiedenen Regionen des Appenzellerlandes werden aber heute dieselben Texte zu anderen Melodien gesungen. So sind gewisse Verse in dieser Dokumentation zweimal, in seltenen Fällen sogar dreimal abgedruckt (s. dazu Detailangaben und Strofenverzeichnis S. …ff). Bereits schon im VLA kommen oft gleiche Verse zu verschiedenen Melodien vor. Es ist eine Tatsache, dass rund vier Fünftel aller Ratzliedliverse zu mehreren Melodien passen, und je nach Zusammensetzung von Singgruppen entstehen dann diese Neuzuordnungen. Des Weiteren kann auch festgestellt werden, dass mit einem halben Dutzend Melodien wiederum vier Fünftel aller Texte gesungen werden könnten. Tatsache ist es aber, dass in der Feldforschung fast 80 Melodien erhoben werden konnten – ein wahrer und ganz unerwarteter Schatz!

För en Hosesack – Ansporn zum Singen
Textliche Abweichungen gab es schon immer und wird es auch weiterhin geben. Das gehört aber zur Lebendigkeit dieser Liedgattung, welche sich oft am Rande der Spontaneität und Improvisation bewegt. Damit die Ratzliedli vermehrt auch wieder gesungen werden, entschieden sich die Herausgeber, parallel zur vollständigen Feldforschungsdokumentation eine Miniausgabe „för en Hosesack“ zu gestalten. Darin finden sich vor allem Ratzliedli-Melodien, die vielen Leuten vertraut sind, aber o Schreck! der Text! „Choont eme wide ken aalte Chog me in Sii …“. Dieses kleinformatige Büchlein möge eine Gedächtnisstütze und ein ständiger Begleiter sein: auf Wanderungen, im Wirtshaus, im geselligen Freundes- und Familienkreis, halt öberaal, wos eme oms singe ischt.

Ausblick und Dank
Mit Ausnahme von Nr. 48 und 54 sind alle Texte und Melodien traditionelles Volksgut und somit urheberrechtlich frei. Zahlreiche Melodien und Texstrofen liegen in dieser Sammlung erstmals in gedruckter Form vor und dürften die Singpraxis da und dort bereichern. Es ist erfreulich, wenn dank dieser Publikation das Ratzliedli wieder vermehrt gepflegt wird. Mit Sicherheit ist es auch bei dieser Feldforschung nicht gelungen, sämtliche Ratzliedlistrofen und Melodien aufzuspüren. Bei den Befragungen im Jahre 2007 war aber von den betreffenden Personen stets wieder zu vernehmen, dass wir sehr umfangreich dokumentiert seien und sie uns wirklich nichts mehr zu bieten hätten. Sollten weitere appenzellische Melodien und Texte zu Ratzliedli irgendwo noch zum Vorschein kommen, sind wir dankbar für Nachlieferungen.
Ich danke allen Sängerinnen und Sängern, welche in den letzten Jahrzehnten ihre Ratzliedlitexte nicht nur sangen, sondern auch sammelten bzw. notierten und uns hunderte von Strophen für diese Publikation zur Verfügung stellten. Ich bedanke mich auch bei allen, die uns Tondokumente überliessen oder uns bei der Feldforschung 2003–2007 Tonaufnahmen ermöglichten. Dank eines grosszügigen Unterstützungsbeitrages des Kantons Appenzell Ausserrhoden speziell für diese Feldforschung konnte die Publikation benutzerfreundlich gestaltet werden: einerseits als wissenschafltiche Gesamtausgabe und andererseits als Kleinausgabe „för en Hosesack“. Allen meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich in dieser Arbeit beraten und unterstützt haben, danke ich herzlich, vorab den Herren Noldi Alder, Hans Hürlemann, Jakob Freund, Urs Klauser und Erwin Sager, welche die Feldforschung in Appenzell Ausserrhoden durchführten.
So bleibt nun die Hoffnung und der Wunsch, dass durch diese Publikation das Ratzliedli im Appenzellerland nicht nur dokumentiert sei, sondern neu aufblüht und als lebendige Singkultur der nächsten Generation übergeben werden kann.

 

Kopfhörer

Hörproben

Amazonen-Schottisch der Toggenburger Ländlermusik, Ebnat, 1908 auf Schellack aufgenommen
2:53


 

"Aus alten Zeiten", Polka, Toggenburger Ländlermusik, Ebnat, 1922 auf Schellack aufgenommen

3:11


 

Werner Knill spielt auf dem alten Hackbrett von Jakob Anton Knill (1840 gebaut). Dieses hat 2013 im Roothuus seine neue Heimat gefunden und steht interessierten Hackbrettspielern zur Verfügung.


 

Anna-Koch-Jodel, historische Aufnahme mit Cäcilia Dähler-Koller, siehe CD Roothuus Frauenjodelgesang >>
2:09


 

Historische Aufnahme 1904 vom legendären Quintett Appenzell: "Appenzellerweisen"
2:26